(Gedanken in und nach der Lektüre von Rüdiger Safranskis Buch „Zeit“)

Manche jagen der Zeit hinterher, andere schlagen sie tot. Manchmal rast die Zeit, wir vergessen die Zeit und manchmal steht sie still. Sie will dann nicht vorbeigehen, die Zeit wird uns lang, wir kriegen sie einfach nicht rum und langweilen uns zu Tode. Etwa bei Tätigkeiten, die wir als Zeitverschwendung erleben: „Das ist Zeitvergeudung“, sagen wir ärgerlich. Oder bedauern, dass irgendetwas uns Zeit stiehlt. Während wir andere Male Zeit als uns geschenkt erleben. Kurzum: Die Zeit ist eine komplizierte Größe. Für viele scheint sie sich zwischen Langeweile und Hektik zu ereignen.

Zur Hektik

„Ich habe keine Zeit.“ – wie oft kommt dieser Satz über unsere Lippen. Dabei wissen wir alle: Zeit ist nichts, was wir haben oder besitzen können. Es gibt sie einfach. Nur wenn wir sie in Relation zu bestimmten Vorhaben und Zielen setzen, kann sie knapp werden.

Oft schätzen wir die Dauer von Tätigkeiten falsch ein. Was vor allem daran liegen mag, dass wir seit der Neuzeit Zeit als Maschinenzeit definieren. Als etwas, was möglichst schnell ein Produkt auswerfen soll. Symbol dafür ist die Uhr, die gleichmäßig tickt und die Effektivität misst. Der Prozess der Produktherstellung – und vielleicht könnten wir hinzufügen: ein nicht geringer Teil des Lebens von vielen – wird dabei klammheimlich seines Eigenwertes beraubt und der sozialen Herrschaft der Uhr unterworfen. Dabei wird das Produkt, das Leben immer unwichtiger. Entscheidend hingegen, mit was für einer Zeitersparnis und Produktionssteigerung es hergestellt werden kann, damit der Gewinn möglichst groß ist. Und so ist die Ökonomie zur alles beherrschenden Beschleunigungs- und damit gleichzeitig auch Wegwerfökonomie geworden. Nur der ständige Wechsel der Produkte und Leben kann zu einer Gewinnsteigerung führen, also müssen alte Produkte und Lebenserfahrungen ständig durch neue ersetzt und somit entsorgt werden. Hört sich das nicht schrecklich an?

Die Folgen sind verheerend: Müllprobleme aller Orten und in alle Ewigkeiten, Luft und Meere sind nicht ausgenommen. Darüberhinaus: Die über Millionen von Jahren entstandenen fossilen Brennstoffe verbrauchen wir in einem derart atemberaubenden Tempo, dass wir über alternative Energiequellen nicht nur nachdenken können, sondern nachdenken müssen. Auch schrumpft die über Millionen von Jahren entstandene Artenvielfalt, die den Planeten im Gleichgewicht hält, dermaßen rapide, dass die Folgen nicht abzusehen sind. Und selbst in der Finanzwelt sind wir längst vom Sparkapitalismus zum Pumpkapitalismus übergegangen, der unsere Leben nach dem Motto strukturiert: „Verbrauche jetzt, bezahle später!“ Gab es früher Kredite, die auf Wertschöpfung in der Vergangenheit, also bereits geleisteter Arbeit, beruhten, so werden heute Kredite vergeben, die auf noch zu leistender Arbeit in der Zukunft setzen. Die Werte dieser Arbeit werden an der Börse in Lichtgeschwindigkeit verhandelt und verlangen eine Flexibilität vom Menschen, die er nicht erbringen kann. Denn der Mensch ist nicht unendlich flexibel und erträgt es nicht auf Dauer, wenn seine Lebenserfahrungen unaufhörlich zu Gunsten neuer entwertet werden.

Wir leben in einer Zeit, in der die Vergangenheit zwar durch die neuen Medien reichlich gespeichert, aber ob ihrer Reproduzierbarkeit in der Regel mit geminderter Aufmerksamkeit bedacht wird. Die Zukunft hingegen wird bewirtschaftet: Möglichkeiten und Anforderungen potenzieren sich im Gleichschritt. Dabei zählen nicht Inhalt und Güte, wohl aber Tempo und Masse. Wozu die Gegenwart flächendeckend mit Zeitregelungen überzogen wird, die sich in Form von Zeitdruck alltäglich ihren Raum schafft. Schöne neue Welt!

Zur Langeweile

Dem gegenüber steht die Langeweile und von vielen erlebte Sinnleere in ihrem Leben und Handeln. Interessanterweise melden sich viele Menschen bei uns, um als Bestatter*innen oder Trauerredner*innen zu arbeiten, weil sie sich von der Arbeit an der Grenze des Lebens Sinn erhoffen. Als ob sich an den Rändern des Lebens Perspektiven auftun, die dem Leben auf der Zeitautobahn Einhalt gebieten und vor einem sich dort Überschlagen schützen können.

Und so ist es ja auch. Wir trostwerker*innen erleben unsere Arbeit als sinnstiftend und sinnvoll. Eben weil diese Arbeit in der Nähe des Todes die Alltagssorgen relativiert, die doch immer von etwas Größerem ablenken wollen. Meist sieht man des Lebens Frist vor lauter Alltagsfristen nicht. so heißt es in einem Merksatz. Gleichzeitig stehen auch wir trostwerker*innen in der Gefahr, dass die Fristen des Bestatter*innenalltags das Ruder übernehmen und die Tatsache der Endlichkeit der eigenen Lebenszeit in den Hintergrund gerät.

Dies mag zum Teil durchaus willkommen sein. Denn es ist fast unmöglich und wenn, dann nicht einfach, der Zeit pur zu begegnen. Manchmal scheint sie durch, wenn wir uns langweilen, ein höchst unerfreulicher Zustand und doch einer, der in der Philosophie als eine menschliche Grundbedingung angenommen wird. Sie bringt nach Heidegger das Gefühl mit sich, aus der Welt und aus sich selbst herauszufallen.

Genauso aber fühlen sich viele Trauernde. Es ist als ob ein Vorhang aufginge und die Zeit sich von ihrer grausamen Seite, ihrer Verlustseite, zeigte. Die Welt in Raum und Zeit löst sich für eine Weile auf. Der Tag-Nacht-Rhythmus verschiebt sich, Pünktlichkeit wird schwierig und selbst die räumliche Orientierung fällt manchen schwer. Heidegger ermutigt diese als leer empfundene Zeit bis zu ihrem toten Punkt auszuhalten, denn an ihm beginne etwas Neues. Dann machen wir uns auf den Weg, einerseits das Vergangene erinnernd festzuhalten, andererseits aber auch Neues zu erwarten und Sorge dafür zu tragen, dass sich dies auch ereignet.

Und in herausragenden Momenten wiederum dürfen wir dann vielleicht auch erleben, was in der Mystik und in fernöstlichen Religionen als Erleuchtung bezeichnet wird: dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander fallen, wir in der Hingabe an etwas oder jemanden die Zeit vergessen und dabei ein Aufgehobensein im einem großen Ganzen für einen Moment erleben.

Als Vorbereitung auf den Tod ist es vermutlich wesentlich, inwieweit es uns bis zu diesem unbestimmten Zeitpunkt in der uns gegebenen Zeitspanne gelingt, dem Verschwinden der eigenen Lebenszeit gegenüber eine versöhnliche Haltung einzunehmen. Was bedeutet, zunehmend damit einverstanden zu werden, dass sowohl das eigene Leben als auch das anderer und sogar das der Welt begrenzt sind. Je mehr uns dies aber gelingt, desto eher finden wir vielleicht aus dieser vermeintlich so schönen neuen Welt, die auf Kosten von Vergangenheit und Zukunft in einer sich überschlagenden Gegenwart lebt, wieder heraus. Und dürfen dafür in eine mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft solidarische Welt hineinleben. Wäre das nicht schön?