In diesen Zeiten … es sind beunruhigende, viele Menschen und auch mich in Anspannung versetzende, turbulente Zeiten, in denen es mir wichtig erscheint, erneut nach Orientierung zu suchen:

Was hält stand, wird gebraucht und bleibt oder wird mehr denn je vonnöten?
Was hingegen ist aufgebraucht, darf vergehen und auf dem Kompost der Geschichte landen?
Zudem wie ist ein Leben möglich, das allem Leben – dem eigenen genauso wie dem fremden – freundlich gegenübertritt?
Und wie gelingt es, in alldem die eigene Menschlichkeit zu bewahren?

Es sind da vor allem die Nachkriegslyrikerinnen, die zu mir sprechen: Ingeborg Bachmann mit ihren Gedichten „Früher Mittag“ und auch „Ihr Worte“.
In ein ähnliches Horn bläst Hilde Domin mit ihrern  „Drei Arten Gedichte aufzuschreiben“, die dritte davon – in Auszügen:

Ich will einen Streifen Papier
so groß wie ich
ein Meter sechzig
darauf ein Gedicht
das schreit
sowie einer vorübergeht
schreit in schwarzen Buchstaben
das etwas Unmögliches verlangt
Zivilcourage zum Beispiel
diesen Mut den kein Tier hat
Mit-Schmerz zum Beispiel
Solidarität statt Herde
Fremd-Worte
heimisch zu machen im Tun

Oder – und dieses Gedicht hier in Gänze:

Ich will dich

Freiheit
ich will dich
aufrauhen mit Schmirgelpapier
du geleckte

die ich meine
meine

unsere
Freiheit von und zu
Modefratz

Du wirst geleckt
mit Zungenspitzen
bis du ganz rund bist
Kugel
in allen Tüchern

Freiheit Wort
das ich aufrauhen will
ich will dich mit Glassplittern spicken
dass man dich schwer auf die Zunge nimmt
und du niemandes Ball bist.

Dich
und andere
Worte möchte ich mit Glassplittern spicken
wie es Konfuzius befiehlt
der alte Chinese

Die Eckenschale sagt er
muss
Ecken haben
sagt er
Oder der Staat geht zugrunde

Nichts weiter sagt er
ist vonnöten
Nennt
das Runde rund
und das Eckige eckig

Und als Beispiel dafür: „Im August 1962 hatte sie in der Heidelberger Tagespresse vehement mit einer Leserzuschrift auf einen Artikel reagiert: Bei einer rechtsradikalen Versammlung war eine Frau von Neonazis verprügelt worden. Die Presse bagatellisierte den Vorfall in ihrem Bericht: Die Frau sei in tätliche Auseinandersetzungen verwickelt worden. Sind die 6 Millionen Juden auch in handgreifliche Auseinandersetzungen ‚verwickelt‘ worden? fragte Domin daraufhin bei der Zeitung an. Und tatsächlich las man am nächsten Tag einen Nachtrag: man sprach nun von einem brutalen Überfall auf die Frau … (s. Marion Tauschwitz, Hilde Domin. Das ich sein kann, wie ich bin. Biografie, 2. überarbeitete und aktualisierte Fassung 2015 (2009), Springe: zu Klamoen Verlag, S. 417f).

Aus all dem entnehme ich, dass es wichtig ist, wie wir reden und wie wir was benennen und dass wir überhaupt benennen. Und wenn es uns dabei gelingt, das Runde rund und das Eckige eckig zu nennen, kann allein darin eine starke, Wirklichkeit gestaltene Kraft liegen. Das aber bleibt meine Hoffnung.